Warum entwickeln wir uns weiter? Mit welchem Ziel? Einerseits natürlich, um uns fehlende Kompetenzen anzueignen. Natürlich macht dieser Ansatz Sinn, etwa um uns auf eine neue Rolle vorzubereiten und arbeitsfähig zu werden. Aber je höher das Managementlevel, desto weniger fallen diese „Wissenslücken“ ins Gewicht. Es geht dann vielmehr um die Frage: Wie kann ich die beste Version meiner selbst werden? Die besten Seiten sind die Stärken eines Menschen. Diese besten Seiten nicht zu kennen und ihnen im Unternehmen nicht die Möglichkeit zur Entfaltung zu ermöglichen, ist in etwa so passend, wie ein Smartphone nur zum Ablesen der Uhrzeit zu benutzen. Was braucht es also, um als Führungskraft die eigenen Stärken zu erkennen und sein persönliches Potenzial zu entfalten?
Stärkenorientierte Grundhaltung
Diese Frage ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage der Haltung. Die Stärkenorientierte Grundhaltung hat ihre Wurzeln in der positiven Psychologie von Martin Seligmann, die wiederum den Positive Leadership-Ansatz inspiriert hat. Im Kern geht es bei Positive Leadership um ein stärkenorientiertes Führungsverhalten und eine potenzialförderliche Organisationskultur – und in der Folge um zufriedene, motivierte und damit leistungsstärkere Mitarbeiter und Teams. Dieses stärkenorientierte Führungsverhalten zeigt sich darin, dass Führungskräfte als erstes wahrnehmen, was Mitarbeiter gut können und wo sie gute Ergebnisse erzielen.
Durch die Beschäftigung mit den eigenen Stärken verändert sich die persönliche Wahrnehmung.
Ein stärkenorientierter Leader wertschätzt die Individualität seiner Mitarbeiter und sucht nach Möglichkeiten, ihre Potenziale zu entfalten. In diesem Zuge reflektiert er auch Anforderungen und Herausforderungen einer Aufgabe, um die beste Passung zwischen Anforderungsprofil und Fähigkeiten zu erreichen. Und setzt dadurch beträchtliche Energie frei. Stärkenorientierung bedeutet aber natürlich genauso, die ganz persönlichen Stärken wahrzunehmen, zu erkennen und diese wirkungsvoll einzusetzen.
Stärkenorientierte Führung in der Praxis
Die Frage nach den persönlichen Stärken erscheint vielleicht trivial, aber sie ist es mitnichten. Studien zufolge sind Führungskräfte – unabhängig von ihrer Führungserfahrung – vergleichsweise schwach darin, ihre Mitarbeiter gemäß ihren individuellen Stärken einzusetzen und ihr Potenzial damit zu fördern. Das mag zum einen daran liegen, dass man Tätigkeiten nicht immer und nicht komplett am Stärkenprofil eines Mitarbeiters ausrichten kann. Vor allem aber liegt es daran, dass Führungskräfte selbst ihre individuellen Stärken im Büroalltag häufig gar nicht reflektieren und wahrnehmen.
Stattdessen erlebe ich in der betrieblichen Praxis leider häufig noch eine starke Defizitorientierung: Wo liegen die Entwicklungsbereiche? Wie kann man diese verbessern? Dadurch, dass diese Fragen das Hauptaugenmerk in Feedback- und Entwicklungsgesprächen sind, werden die individuellen „Defizite“ auch zum persönlichen Fokus der Wahrnehmung. Damit geht aber eine ungeheure Verschwendung von Potenzial einher! Warum also nicht mal zur Abwechslung fragen: Worin bin ich schon wirklich gut? Wie kann ich darauf aufbauen? Denn erst daraus können Führungskräfte neue Möglichkeiten für ihre Führungspraxis entwickeln.
Ein Beispiel: Einer meiner Kunden war wirklich gut darin, Menschen zusammenzubringen und rasch eine Verbindung aufzubauen. Diese Stärke konnte er in Zeiten von Corona wunderbar einsetzen. Sein Team, das er über Monate hinweg remote führte, verlor an Motivation. Anstatt den individuellen Leistungsdruck zu erhöhen, setze er seine Stärke für ein neues kreatives Teamkonzept ein und konnte so den weiteren Zusammenhalt und die Motivation gewährleisten.
Stärkenorientierung entwickeln
Wo aber kann stärkenorientierte Entwicklung ansetzen? Wie können sich Führungskräfte ihrer eigenen Stärken bewusster werden? Es gibt natürlich zahlreiche diagnostische Instrumente, die wertvolle Einsichten in die eigenen Stärken vermitteln können. Das bekannteste stärkenorientierte Instrument ist das „CliftonStengths Assessment“, das zwischen 34 Talenten unterscheidet. Das Strengths Assessment gilt als praktikable und weit verbreitete Diagnostik im Unternehmenskontext, kann aber nicht objektiv wissenschaftlich belegt werden.
Konkret im Führungskontext ist der PERMA-Profiler eine gute Alternative, seine Führungsstärken diagnostisch zu prüfen. Der PERMA-Profiler basiert auf dem PERMA-Lead Modell von Dr. Markus Ebner. Einem, aus meiner Sicht, sehr praxisorientierten und theoretisch gut fundierten Positive-Leadership-Modell. Demnach zeichnen einen positive Leader die folgenden 5 Faktoren aus (angelehnt an den Ansatz der positiven Psychologie):
- Positive Emotions: Ermöglicht positive Emotionen am Arbeitsplatz
- Engagement: Fördert Mitarbeiter-Engagement durch stärkenorientierte Aufgabenverteilung
- Relationship: Schafft tragfähige Beziehungen unter den Mitarbeitern seines Teams
- Meaning: Vermittelt Sinn in der Arbeit
- Accomplishment: Macht Erreichtes sichtbar und zeigt Wertschätzung
Der PERMA-Profiler differenziert, in welchem dieser fünf Faktoren die persönlichen Stärken und auch Entwicklungsfelder liegen. Im Unterschied zum CliftonStrengths Assessment bedarf der PERMA-Profiler jedoch der Testung durch einen entsprechend zertifizierten Coach oder Berater. Angereichert werden kann der Profiler um ein 360-Grad-Feedback, was grundsätzlich immer eine sehr gute Möglichkeit darstellt, weitere Perspektiven in Bezug auf die eigenen Stärken und Entwicklungsfelder zu bekommen.
Persönliche Stärkenwahrnehmung im Alltag
Der Rückgriff auf diagnostische Verfahren beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie Führungskräfte zu einer stärkeren Stärkenwahrnehmung im Alltag kommen. Die wirkungsvollste Möglichkeit, sich der eigenen Stärken bewusst zu werden, ist daher immer der innere Dialog und die Reflexion persönlicher Erfahrungen, am besten anhand einer Situation, in der etwas Wichtiges erreicht wurde und die durch starke innere Zufriedenheit geprägt war.
- Was genau war hier das Ziel?
- Wie war das konkrete Vorgehen?
- Welche Hürden wurden überwunden?
- Was hat dabei geholfen?
- Welches Ergebnis wurde erzielt?
Situationen und Fragen dieser Art helfen, persönliche Stärken und Ressourcen aus dem eigenen Verhalten abzuleiten. Hilfreich ist auch die Selbstbeobachtung im Alltag: Was hat mir heute Freude gemacht? Was ging mir leicht von der Hand? Denn in der Regel spiegeln diese Dinge auch die individuellen Stärken wider. Zu diesem Zweck kann sich auch ein Stärken-Journal empfehlen, um seine Beobachtungen zu dokumentieren.
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Stärken stärken
Sind die persönlichen Stärken identifiziert, gilt es sie zu stärken, ansonsten kann sich kein Potenzial entfalten. Am effektivsten geschieht das, indem kleine Alltagsrituale geschaffen werden. Beispielsweise: jeden Morgen EINE persönliche Stärke in den Fokus nehmen und überlegen, wie diese heute konkret eingesetzt werden kann. Natürlich passiert es anfangs, dass man seine Stärke über den Tag hinweg wieder aus den Augen verliert, aber mit der Zeit treten diese Stärken deutlicher ins Bewusstsein, wie einen Muskel, den man trainiert.
Handlungs- und Entscheidungsspielraum geben
Über diese kontinuierliche Bewusstmachung der eigenen Stärken verändert sich erwiesenermaßen tatsächlich die Wahrnehmung. Das wiederum verschafft neuen Spielraum, Führungsverhalten und Aufgaben bewusst so zu gestalten, dass sie dem individuellen Wesen entsprechen. Voraussetzung dafür ist natürlich, entsprechenden Handlungs- und Entscheidungsspielraum zu haben. Als Top-Führungskraft genießt man diese Art von Gestaltungsspielraum. Und so wird dieser zu einem großen persönlichen Entwicklungs- und Motivationshebel. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern einen gewissen Handlungsspielraum geben müssen, damit sie ihrerseits stärkenorientiert arbeiten können.
Stärkenorientierung in der beruflichen Neuorientierung
Gerade Phasen beruflicher Neuorientierung bieten die Chance, sich noch einmal der persönlichen Stärken bewusst zu werden und sich zu fragen: In welchem Unternehmensumfeld, welcher Kultur und welchem Tätigkeitsprofil bin ich in meinem Element? Eckart von Hirschhausen bringt das mit seinem Pinguin-Prinzip sehr gut auf den Punkt. Er spricht davon, „wie wichtig die Umgebung ist, damit das, was du kannst, überhaupt zum Vorschein kommt.“ Und ich glaube hierin liegt die große Chance: Mehr Zeit in seinem „persönlichen Element“ zu verbringen und mehr von seinen Stärken zu nutzen.
Fazit
Stärkenorientierung ist eine mentale Grundhaltung, die dazu verhilft, einen guten inneren Kompass zu entwickeln. Dieser innere Kompass eröffnet Führungskräften neuen Gestaltungsspielraum für ihre persönliche Führungspraxis. Gleichzeitig sorgt er dafür, dass auch Mitarbeiterpotenziale in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und entwickelt werden. Damit ist eine ganz wesentliche Leadership-Kompetenz erfüllt, die in Zukunft sicherlich immer wichtiger werden wird, weil Führungskräfte schon jetzt eine Generation zu führen haben, denen die individuelle Entfaltung über alles geht.
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